Bjørn: Jedoch habe ich gelegentlich Behauptungen gelesen, Jackson wäre kein „echter“ Komponist gewesen, weil er keine Noten wie ein klassischer Komponist aufgeschrieben habe. Aber wer weiß, vielleicht war er eigentlich seiner Zeit nur weit voraus, ein Komponist, der bewusst Noten und Papier den Laufpass gibt, weil sie nicht „notwendig“ sind (wie er irgendwo in der Mexico Deposition sagt)?
Lisha: Das sehe ich auch so. Ich denke von Michael Jackson nicht als einem pre-schriftlichen Komponisten, sondern einem post-schriftlichen. Es ist ein großer Fehler, anzunehmen, „echte“ Komponisten würden „Noten aufschreiben wie klassische Komponisten“. Der traditionelle Weg des Schreibens auf Papier ist nur eine Art Musik zu speichern und zu kommunizieren. Michael Jackson wandte eine äußerst effiziente Methode für beides an, und ich denke, sie ist weitaus cleverer.
Bjørn: Vielleicht zu clever für die Kritiker? Komposition und Songschreiben ist allerdings ein weiterer Bereich, in dem Michael Jackson gern alles vermischt hat. Manchmal scheint er zum Beispiel absichtlich eine unkonventionelle Aussprache benutzt zu haben. Erinnert euch nur an all diese Diskussionen über Dinge wie „Shamone!“ oder die exakten Lyrics des berühmtesten Dementis der Welt: „The kid is not my son“! („The chair ist not my son“, wie David Letterman herausgehört hatte!) Jackson streunt sehr viel herum in den Grenzbereichen zwischen „Komponieren“ und „Improvisieren“, „Bedeutung“ und „Nicht-Bedeutung“, „Stimme“ und „Instrument“, „Mensch“ und „Natur“ und sogar „Mensch“ und „Maschine“ - wenn er einen Sprachsynthesizer in Leave me alone einsetzt.
Und um noch einmal auf Don’t Be Messin’ Round zu sprechen zu kommen, denke ich, es ist erstaunlich, in welchem Ausmaß Michael Jacksons Stimme dazu fähig ist, einen eigenständigen freien Raum, der in der Luft und gedanklich bei den Zuhörern liegt, zu erzeugen. Hattest du die Gelegenheit Slave to the Rhythm im Original zu hören, als es geleakt war? In den ersten Sekunden des Songs ist es, als würde MJ Energie aus dünner Luft ziehen und dann mit seinen NVVs für den gesamten Song die Bühne bereiten! Es ist so kraftvoll, seine Sounds hören sich fast an wie physische Objekte. Da ist ein lautes „hoo!“, dann eine Reihe von dominierenden „chuck-chuck-chuck“, ein weiteres „hoo!“, Hiccups und gezerrte „ah!“s gemixt mit zu- und abnehmenden „woahoaow“-Klagen, die ihren Höhepunkt in einem doppelten „hoo! hoo!“ finden. Erst nach 22 Sekunden beginnt der eigentliche Gesang …
Lisha: Ich liebe diese NVVs in Slave to the Rhythm! Ich habe auch über den Anfang von Workin’ Day and Night nachgedacht und wie er zwei verschiedene NVV-Hooks gleichzeitig erzeugt - „de-dum dah“ und „uh-ah uh-ah“ - die wie separate Percussion Instrumente sind. Der Soundtrack zu Michael Jackson Immortal betont dies besonders. Ich kann sogar eine „chu-chu“ Vokalisierung hören, die sich mit den Percussions verbindet.
Bjørn: Wo wir schon mal dabei sind – ich habe mir gerade noch mal Speed Demon angehört. Die NVVs dieses Songs sind sehr ungewöhnlich. Wieder einmal vergehen etwa 20 Sekunden ehe der Gesang beginnt. MJ bereitet den Weg mit drei sehr kehligen „chu!“s, gefolgt von einem eigenartigen, fast mädchenhaften „oo!“, wieder gefolgt von einem weiteren Trio von „chu!“s. Nahe am Ende des Songs, gibt er gar einen gesamten NVV-„Monolog“ von sich: „oouh!“ (2:55), „ogh!“ (2:58), (mädchenhaft) „ah!“ (3:00), „urh!“ (3:03), „hoow!“ (3:05). Es erinnert mich an die gedruckten Soundeffekte in Comics („boom!“, „ugh!“, „kapow!“).
Willa: Da stimme ich dir zu! Und das ist eine großartige Art der Beschreibung, Bjørn.
Bjørn: Ich frage mich, ob er dieses spezielle „chu!“ extra für Speed Demon erfunden hat? (Es ist so kehlig, es kommt mir vor wie Cockney Englisch oder meine eigene Sprache Dänisch!). In einem gewissen Sinn trägt es den gesamten Song – genauso wie das „dah!“ in Bad.
Lisha: Meiner Meinung nach wurde das „chu“ absolut für Speed Demon kreiert, als lautmalerische Nachempfindung des Motorradgeräusches. Hör ganz genau hin und du kannst auch ein trommelndes Rüttel- oder Schüttelgeräusch hören, wenn der Rhythmus beginnt, nachdem die Maschine in den ersten Sekunden des Songs hochgedreht wird. Wenn du Kopfhörer trägst, hörst du es 8 mal, dann wandert es auf die rechte Seite für 8 Male, und setzt sich links und rechts abwechselnd fort. Das ist kein vorgefertigter Soundeffekt oder ein anderes Percussion Instrument, sondern ein sehr weiches, geflüstertes, rhythmisches NVV! Und es ist ein komplexes Muster, ich bin nicht mal sicher, ob ich es ohne die Hilfe des isolierten Tracks aufschreiben könnte, aber es klingt wie ein imitiertes Motorschnurren oder –rattern für mich.
Wir sprachen vorher darüber, wie ausdrucksstark Michael Jacksons NVVs sein können und dass sie so äußerst wirkungsvoll Emotionen vermitteln, aber oftmals werden sie als Soundeffekte eingesetzt oder als instrumentaler Part genauso wie alles andere. Und sie sind oft so dezent und vermischt mit vielen verschiedenen Schichten anderer Sounds, so dass sie nicht unbedingt bemerkt werden. Und sie sind einfach so einfallsreich und fügen dem Sound eine erstaunliche Vielfalt hinzu. Es scheint keine Grenzen zu geben, wenn es um Michael Jacksons Vorstellungskraft geht.
Ein Lieblingsbeispiel ist für mich Stranger in Moscow. Wenn du ganz genau hinhörst, genau bevor der Gesang anfängt, ist da ein kurzes, geflüstertes „tuh“, auffallend unkonventionell platziert, das einen sehr weichen, stoßenden Ton hinzufügt. Später im Song, direkt nach „when you’re cold inside“ (1:42) wiederholt er diesen weichen Ton, „tuh tuh tuh tuh“, aber es klingt, als würde er einige von ihnen wirklich einatmen, was dem Ganzen eine geringfügig andere Färbung verleiht. Ich meine, wer sonst denkt auf diese Art?
In der Zeile „how does it feel“ wird das Wort „does“ stark betont und einer der Klänge, die diesen Takt betonen ist ein geflüstertes „huh“, das in den Mix eingearbeitet ist. Aber all diese Details gehen oft unbemerkt unter. Du fühlst einfach nur die Kraft der Musik und wie die Lyrics mit all diesen Klängen eins werden.
Willa: Nun, sie sind ganz sicher von mir unbemerkt geblieben! Das ist eins der Dinge, die ich so liebe, wenn ich mit euch beiden rede – ihr holt Details ans Licht, die ich selbst niemals bemerken würde. Ich fühle mich manchmal so, als hätte ich diese Songs schon jahrelang gehört und nicht wirklich hingehört. Es ist so faszinierend damit anzufangen einige der Dinge zu hören, die ihr heraushört.
Zum Beispiel habe ich niemals diese „tuh tuh“ Töne bemerkt, über die du gesprochen hast, Lisha, obwohl Stranger in Moscow sogar einer meiner Lieblingssongs ist und ich es sehr oft höre. Aber du hast Recht – du kannst sie definitiv in mehreren Schlüsselmomenten hören. Ich höre sie am deutlichsten in dem „We’re talking danger … I’m living lonely“ – Teil (bei 3:45). Es ist wie ein explosives Ausatmen, das in regelmäßigen Abständen auftaucht, fast so, als würden wir hören, wie er Gewichte hebt oder eine andere Art harte körperliche Arbeit verrichtet. Und dieser sich wiederholende Klang übermittelt ganz subtil das Gefühl, dass er unter Zwang steht und eine schwere Last trägt. Wenigstens fühlt es sich so für mich an.
Lisha: Großartiges Beispiel, Willa. Dieses Ausatmen fühlt sich für mich ebenfalls sehr schwerwiegend an, was dem Song musikalisch so viel Gewicht verleiht. Es ist endlos faszinierend all diese Klänge herauszuhören und versuchen zu verstehen, auf welche Art sie eingesetzt werden.
Oh, und ich kann einfach nicht widerstehen ein weiteres Beispiel dieser sehr subtilen NVVs zu nennen, welches People of the World ist, ein Charity Song, den Michael Jackson 1995 nach einem verheerenden Erdbeben für die Menschen in Kobe, Japan geschrieben und produziert hat:
okgjxN0TFaE
Obwohl es auf Japanisch ist und Michael Jackson selbst nicht auf diesem Track mitsingt, ist seine Arbeit als Songschreiber und Produzent unverkennbar. Du kannst buchstäblich hören, wie er dem Song direkt bevor der Gesang beginnt (1:38) und während des Songs als Percussion-Effekt zwischen den Takten mit einem flüsternden NVV Leben einhaucht. Ich bin ein großer Fan dieses Songs.
Bjørn: Ich kann verstehen, warum. Ich habe ihn bisher nie gehört, und er ist wirklich schön. (Popmusik von anderen Performern lässt mich oft erschaudern, das sollte also Beweis genug sein dafür, dass Michael Jacksons Geist in diesem Song lebendig ist!). Danke für’s Zeigen.
Lisha: Ich gebe zu, ich bin ihm ein wenig verfallen. Es ist erstaunlich, dass ich das Gefühl habe, als würde ich irgendwie verstehen, was da gesagt wird, obwohl ich kein Wort Japanisch spreche. Ich vermute, das kommt durch die Kraft der Musik und durch den nonverbalen musikalischen Ausdruck.