Kommentar
Michael-Jackson-Prozess mit Fragezeichen
07.11.2011 | 22:23 Uhr
Washington.
Die Beweislast war erdrückend, die Anklagestrategie
plausibel, die Theorie der Verteidigung stand auf zu dünnem Eis. Der
Schuldspruch für Dr. Conrad Murray ist nachvollziehbar.
Trotzdem hinterlässt
dieser zum Prozess des Jahres stilisierte Gutachter-Streit der
medizinischen Wisser und Besserwisser, in dem vieles ausgeblendet wurde,
was zur Gesamtschau nötig gewesen wäre, ein schales Gefühl.
Conrad Murray ist nicht das, was der große Michael Jackson in
einem seiner vielen Hits einmal einen „Smooth Criminal“ nannte, einen
geschmeidigen Gauner. Über die Prozessdauer erschien einem der
schlaksige Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht eher selbst wie ein Fall
für die Couch. Wie ein von Geldgier Getriebener, der das nahende Unheil
eigentlich qua Fachkunde früh gesehen haben muss, der aber nicht den
Entzug eines satten Honorars für die medizinisch längst überfällig
gewesene Entwöhnung eines Mehrfach-Abhängigen eintauschen wollte.
Kein Arzt - sondern ein Dealer
Murray
war - ungeachtet des Urteils - in den zwei Monaten vor Jacksons Tod
kein Arzt. Sondern ein Dealer, der dem Junkie auf Bestellung stetig den
Stoff besorgte und auch noch selber in die Vene jagte: Propofol, die
trübe, gefährlich Milch, die für Stunden verdrängt, was der Tag
hinterließ. Conrad Murray ist dem nimmermüden Drängen des
Ausnahmekünstlers, der Bataillone von Ärzten verschlissen hatte, nach
immer mehr chemisch erzeugter Befreiung von Erwartungsdruck und
Seelenpein erlegen. Anstatt klipp und klar nein zu sagen. Und sich zu
verweigern. Und mit Macht das zu organisieren, was Michael Jackson bis
zuletzt versagt blieb: umfassende Hilfe, die Ursachen bekämpft und nicht
Symptome. Hilfe, die am Menschen Jackson interessiert war, nicht am
Funktionieren seines Körpers.
Der Clan - Jacksons bucklige Verwandtschaft
An
dieser Stelle kommt die gelinde gesagt bucklige Verwandtschaft des
Künstlers ins Spiel. Anstatt sich in Demut zu üben und die eigenen, bis
zur unterlassenen Hilfeleistung reichenden Versäumnisse beim
schleichenden Niedergang ihres Bruders/Sohnes einzuräumen, wollte der
Jackson-Clan von Anfang nur eines: Murray hinter Gittern sehen. Dass
Jackson Zeit seines Lebens von einer Kindheit traumatisiert war, die
einem straff geführten musikalischen Familienzirkus glich, den der
geldgierige Vater mit Prügel und Liebesentzug von Aufführung zu
Aufführung hetzte, sollte aber nicht vergessen werden. Vielleicht war es
die Geburtsstunde für Jacksons chronische Abhängigkeit von
Stimmungsaufhellern und Beruhigungsmitteln, die am Ende wohl nur gegen
seinen erklärten Willen hätte therapiert werden können.
Erfolgreich wie nie
Außen
vor blieb im Gericht von Los Angeles auch das ungesunde Zusammenspiel
all derer, die mit der „cash cow“ Jackson, der vor seinem Tod ein Wrack
war, rücksichtslos blendende Geschäfte machten und dabei die endgültige
Zerrüttung der Psyche und der Physis des Mannes billigend in Kauf
nahmen.
Jackson ist – Ironie der Geschichte – heute so erfolgreich
wie nie. Seine alten Platten verkaufen sich wie geschnitten Brot, neue
kommen in den nächsten Jahren auf den Markt. Posthum Einnahmen in
Milliardenhöhe. Die Schulden sind getilgt. Für seine Kinder ist mehr als
gesorgt. Nur einen Vater haben sie nicht mehr. Weil chronische
Schlafstörungen zur falschen Zeit am falschen Ort vom falschen Arzt
falsch behandelt wurden.
Dirk Hautkapp
http://www.derwesten.de/unreso…agezeichen-id6054854.html
Das erste Mitglied der Jury erzählt, was hinter den Türen geschah