Dancing With The Elephant

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  • ...die Antike... die Renaissance...die Romantiker... alles eine Linie

    einer der Erben all jener Künstler, Denker und grossen "Geister" vor ihm. Demütig und dennoch ganz bewusst, voller Respekt, Liebe und dem ständigem Wunsch von ihnen zu lernen

    Absolut! So sehe ich das auch. Vor allem muss ich an Friedrich Schlegel und seine "Rede von der Mythologie" denken ( :gdh: http://www.zeno.org/Literatur/…+%C3%BCber+die+Mythologie ).


    Während alle Welt seit der Aufklärung die Überwindung des mythischen Denkens durch Wissenschaft, Säkularisation und Rationalität feiert, beklagt er, wie alle Romantiker nach ihm, dass der moderne Mensch eben keine Mythologie mehr besäße, die ihn über ihren magischen Zauber mit seiner Welt, seinen Mitmenschen und der Natur auf harmonische Art und Weise verbindet und somit "All ONE" in der menschlichen Vorstellungswelt (und dies ist seine Realität, seine Wirklichkeit, die einzige Welt, die er verwirklichen kann, wenn er an sie glaubt) präsent hält. Aufgabe des Künstlers (damals v.a. der Dichter) sei es, eine neue Mythologie zu erschaffen, nicht als Rückkehr in vormoderne Zeiten (was ohnehin nicht möglich wäre), sondern um einen Einklang auch unter modernen Bedingungen und Errungenschaften wiederherzustellen, als Mythos, der das moderne Leben in sinnvoller Weise leiten könne, denn die Fortschritte und Entwicklungen der Moderne seien ja nicht per se schlecht und zu verurteilen. Die Entwicklung war nur so rasant, dass unsere kulturelle Entwicklung dahinter zurückblieb. Er schreibt: "Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen. Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen, wie die alte ehemalige (Anm.: die griechische Mythologie ist hier gemeint mit der alten), überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt."
    "Und ist nicht dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poesie?", fragt er. "Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe? [...] Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter." Heute kennen wir ein schöneres Symbol... :michael1: :wolke1: Gerade bei Michaels multidimensionaler, multimedialer und vielschichtiger Kunst (und das in jeder Einzelheit: die Musik selbst ist komplex, die Texte und Bedeutungsebenen vielschichtig, Posen mehrdeutig oder auch all seine Talente und Interessen fernab der Musik oder einfach sein Leben ganz allgemein, öffentlich, global, multikulturell usw....) könnte ich Schlegels Vorstellung von einer neuen Mythologie verwirklicht sehen. Ebmeier hat es für mich mit den letzten Sätzen seines "Phänomens" auf den Punkt gebracht: "Er ist ein Romantiker. Ein Moderner. Er ist der erste Künstler einer neuen Zeit." (S. 258)

    Bei Michaels Texten gibt es nie nur das offensichtliche, was auf den ersten "Blick" zu erkennen ist, es gibt immer verschiedene Ebenen und Interpretationsmöglichkeiten.

    Genau. Ich denke, der "erste Blick" ist dabei meist das, was man anhand des herrschenden Weltbildes, auf dessen Wahrnehmung man eben "konditioniert" ist, recht schnell und leicht erfassen kann, weil es einem sofort bekannt vorkommt und so ist es auch intendiert, denn hier ist der Startpunkt, d.h. der Stand der Dinge und die Sicht der Welt, mit denen alle sich irgendwie identifizieren können, der status quo sozusagen. Ab hier aber beginnt dann die Reise, auf die Michael dich mitnimmt (my friend you have seen nothing...), wenn und wann immer und so oft du möchtest, denn du sollst nicht stehen bleiben (da fällt mir immer ein, was er im Ebony-Interview von 1987 sagt: "I think that's life, to wanna grow and become more and ... like you plant a seed and it grows into something beautiful and it never dies really... I think people should be that way"), die Welt, wie sie ist, soll nicht befestigt/bestätigt werden (weil sie nicht gut genug ist und man sich damit nicht zufrieden geben darf oder gar lernen soll, dass es unabänderlich nunmal so sei). Das ganze ist ein andauernder Prozess, der Weg ist das Ziel und er ändert alles, zuallererst dich und letztlich die Wirklichkeit, die wir uns ja immer selbst erschaffen. Wenn ich nur daran denke, was vielleicht in 100 Jahren ist.... :stern: :stern: :stern: :stern:

    :herz: Michael Jackson - forever the King of Pop. A genre of music. Mainly, a beautiful human being. :herz:
    es ist, was es ist... sagt die liebe


  • Mensch, biba, das ist ja richtig kultur und literaturwissenschaftlich, was du hier zitierst, erinnert mich an mein Germanistikstudium in den 80er Jahren (hab ich aber nicht abgeschlossen).
    Aber es passt schon, Michael Jackson hat schon eine eigene Kunstform geschaffen und ist in der Tat sehr vielschichtig.
    "Das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur" kommt auch in "Human nature" vor. Er hat das alles ganz tief empfunden und visioniert.
    Ja, und bei manchen Menschen geht die Saat auf, bei andern nicht oder erst viel später. Wir dürfen gespannt sein.
    Was ich auch so phänomenal finde, ist, dass er gerade durch seine Vielschichtigkeit alle Schichten von Menschen erreicht. Auch wenn man nur die oberflächliche Ebene seiner Kunst wahrnimmt, haut es einen trotzdem vom Hocker und dann noch viel mehr und immer weiter, wenn man tiefer geht.
    Und man kann es durch den Tanz auf noch einer weiteren Ebene wahrnehmen, das ist wirklich unglaublich :isis::isis::isis:

    You were the rhythm,
    You were the sound of a crescendo,
    You showed us Heaven and Light,
    you faced the fear.


    Einmal editiert, zuletzt von Daniela Jackson ()

  • kultur und literaturwissenschaftlich

    Ja, aus der Ecke komm ich. :rotwerd: Es ist so interessant wie alt im Grunde diese (romantische) Denkart ist, die sich auch in Michaels Werk wiederfindet, nur dass sie sich bisher nie so ganz hatte durchsetzen können (natürlich spielt hierbei u.a. ihr Missbrauch durch Hitlers Propaganda auch eine sehr große Rolle und ich frage mich, ob der History-Trailer auch darauf hinweisen sollte :schulter: ). Aber sie ist natürlich immer DA, wie Ebmeier treffend festgestellt hat, als Sache der Kinder oder als "Kitsch" in die absolute Intimzone verbannt. Dort kann sie natürlich nicht sehr gut gesellschaftlich wirken... Aber mit Michael ist sie ja ins globale Spotlight gerückt.


    Auch wenn man nur die oberflächliche Ebene seiner Kunst wahrnimmt, haut es einen trotzdem vom Hocker und dann noch viel mehr und immer weiter, wenn man tiefer geht.

    Genau. Als Weltgesellschaft hatten wir uns die ganze Zeit auf der Oberfläche aufgehalten und selbst die hat uns den bekanntesten Menschen der Welt und den größten Star aller Zeiten beschert, ein Phänomen eben, einen Mythos, weltweit. Jetzt fangen immer mehr Menschen an, in die Tiefe zu gehen... Wow, also die Bedeutung dessen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denk ich. Wahnsinn!! Ich meine, Michael ist ja v.a. auch so religiös, so spirituell, ohne dabei einer bestimmten Glaubensrichtung anzugehören. Ist schon bemerkenswert, dass überall auf der Erde die Menschen ihn als Anhänger ihrer jeweiligen Religionen sehen und versuchen, es durch sein Verhalten etc. zu beweisen. Jeder möchte ihn gern auf seiner Seite wissen. Er könnte wirklich leisten, was den einzelnen gerade auch durch ihre blutige Geschichte nicht möglich zu sein scheint. So Why you wanna trip on me?

    :herz: Michael Jackson - forever the King of Pop. A genre of music. Mainly, a beautiful human being. :herz:
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  • Ja, genau ! Sag mal, schreibst du auch Artikel ? Wenn nicht, solltest du !! Ich hab das früher auch gemacht, mein Berufswunsch war mal Journalistin für den Feuilleton zu werden, lol.


    Meine zweiten Fächer waren Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, ein Semester Musikwissenschaft.


    Du sprichst auch ein Thema an, das mir schon seitdem immer am Herzen liegt: KITSCH !!!!!


    Mein damaliger Freund und ich haben uns immer darüber aufgeregt, dass die Menschen so sinnenfeindlich sind und so viel große Kunst gleich in die Kitschecke stellen. Wohl weil sie mit ihren eigenen Gefühlen nicht wirklich umgehen können.


    Wir waren beide Romantikliebhaber , aber auch Rubens und Boticelli und Raphael liebten wir. Da sehe ich auch viele Parallelen zu Michael, dessen Videos auch von Vielen als "kitschig" wahrgenommen werden.
    Ich muss gestehen, bei manchen Videos, z.B. Childhood oder auch z.T. Earth Song ging es mir am Anfang auch so, aber nach mehrmaligen Sehen, hat sich mein Herz geöffnet und ich habe eine andere Ebene wahrgenommen.
    Michaels Videos sind einfach auch so ungwöhnlich und einzigartig, dass es manchmal eine Zeit braucht, sie zu verstehen. Aber sie tragen eine sehr deutliche Handschrift und immer eine Vision und eine Aussage in sich.

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  • Du sprichst auch ein Thema an, das mir schon seitdem immer am Herzen liegt: KITSCH !!!!!

    Ich muss gestehen, bei manchen Videos, z.B. Childhood oder auch z.T. Earth Song ging es mir am Anfang auch so, aber nach mehrmaligen Sehen, hat sich mein Herz geöffnet und ich habe eine andere Ebene wahrgenommen.




    Das Behandlung von Kitsch und Kunst ist mein Lieblingsthema bei Ebmeier a035.gif! Er hat alle meine Probleme, die ich jemals mit Kitsch hatte, gelöst. Zum Beispiel mit diesem Satz:


    Nichts versichert ein Kunstprodukt dagegen, als Kitsch konsumiert zu werden. Das liegt aber weniger an den Merkmalen des Stücks, als in der Bereitschaft des Hörers.

    oder hiermit:


    Die typische Überladenheit wird angeführt als stilistisches Kitschmerkmal, zuviele Details an einer zu dürftigen Sache. Aber kommt uns nicht die Kunst des Barock allenthalben überladen vor? Das fand man schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, und daraus entstanden das elegante Rokoko und der strenge Klassizismus. Ist also Barock Kitsch? Eine banausische Frage. Und doch...!


    ...


    Freilich, was Kitsch sei, hat man fast so oft und so vergeblich zu definieren versucht, wie - die Kunst selbst. Immer versucht man es mit der Aufzählung kennzeichnender Merkmale. Das Sentimentale steht an erster Stelle, aber es nützt nichts: Ein Werk, das nicht das Gemüt des Betrachters - oder Hörers - mächtig bewegt, ein Werk, an dem es nur etwas zu begreifen gibt, ist gewiß kein Kunstwerk; sondern allenfalls Illustration zu einer theoretischen Abhandlung. (Das macht ja die ästhetische Erlebnisweise aus: daß das, was da „angeschaut“ wird, ipso facto schon gewertet ist; vor jedem Urteil.)

    The truth must dazzle gradually
    Or every man be blind
    Emily Dickinson

  • Danke. Wir haben uns das damals so erklärt, dass die Ablehnung von Sinnlichkeit, genannt Kitsch, aus Angst entsteht, aus der Angst vor den eigenen Gefühlen, der Angst sich hinzugeben, sich fallen zu lassen. Deshalb auch bei vielen die Verklärung der "Schlichtheit", das hieß für uns die Abwesenheit von Farben und runden Formen und Schnörkeln.
    Dazu braucht es Mut und Michael Jackson hatte Mut, so viel, dass er eigentlich für die ganze Menschheit reichen könnte.

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  • Danke, Daniela, für das Kompliment :schäm: ... Bin eh grad so am Überlegen und Herausfinden, was ich nach dem Studium am liebsten machen würde... mal sehen...

    Wohl weil sie mit ihren eigenen Gefühlen nicht wirklich umgehen können

    Ja, richtig, aber das ist zugleich auch was kulturelles bzw. kulturell vermitteltes und da kommt Lilly ja wie gerufen :daumen: :

    Er hat alle meine Probleme, die ich jemals mit Kitsch hatte, gelöst.

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  • Zitat

    ich muss gestehen, bei manchen Videos, z.B. Childhood oder auch z.T. Earth Song ging es mir am Anfang auch so, aber nach mehrmaligen Sehen, hat sich mein Herz geöffnet und ich habe eine andere Ebene wahrgenommen.


    ..jo.. :-D ..von da komme ich auch :bohr: , und ich glaube, dass sich genau deshalb noch viele Menschen selbst im Weg stehen...man hat es ganz schnell "abgehakt" ..als Kitsch, vlt. als schön anzusehen, aber "nichts dahinter", man will sich den Emotionen nicht öffnen und so viel Gefühl nich an sich ranlassen, aber das ist wohl der erste Schritt um mehr zu erkennen.


    Zitat

    Nichts versichert ein Kunstprodukt dagegen, als Kitsch konsumiert zu werden. Das liegt aber weniger an den Merkmalen des Stücks, als in der Bereitschaft des Hörers.


    Zitat

    Wir haben uns das damals so erklärt, dass die Ablehnung von Sinnlichkeit, genannt Kitsch, aus Angst entsteht, aus der Angst vor den eigenen Gefühlen, der Angst sich hinzugeben, sich fallen zu lassen.


    ..die Bereitschaft des Hörers zur Unvoreingenommenheit, sich wirklich zu öffnen und Gefühle zuzulassen...wer sich dagegen abschottet und vorverurteilt wird auch nie etwas neues finden.

  • Ich möchte meiner Lust am Schlichten und Einfachen auch weiter frönen könnenb025.gif . Warum geht nicht beides? Gleichzeitg, nebeneinander, nacheinander, jedes zu seiner Zeit.


    Auch zu Schlichtheit kann Mut gehören. Wenn die Liebe zu Schlichtheit und Einfachheit die gleichzeitige Abwesenheit von Sinnlichkeit bedeuten würde, dann müsste das gesamte Bauhaus ja ein ziemlich emotionsloser Haufen gewesen sein biggrin.png. Ich denke, dass das alles viel komplexer ist, dass immer alles möglich ist liebguck.gif und genau das ist für mich das Schöne daran.
    Auch Michael hat meiner Meinung nach die Schnörkel neben dem Einfachen gelebt. Nur als Beispiel: die stark dekorierten Uniformjacken gegenüber dem weißen Hemd mit der schwarzen Hose (schlichter geht nicht). Ich liebe beides an ihm.


    Wie Ebmeier sagt, es liegt am Betrachter, wie es jemand bewertet. Die Kritik an Kitsch ist ja auch, dass die Bewertung schon durch die Wortwahl für sich genommen negativ ist. Niemand sagt bewundernd: Oh wie schön, das ist ja wunderbarer Kitsch. Nach Ebmeier kann jeder den Kitsch der anderen für sich als Kunst definieren. Kitsch wird legitim. Das gefällt mir so an Ebmeier.

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    Einmal editiert, zuletzt von Lilly ()

  • Woah,
    Ihr seid ja so klasse! :doppelv:
    Was für eine tiefsinnige Diskussion. Macht Freude sie zu verfolgen.
    Dankeschön :blume:

    multimedialer und vielschichtiger Kunst (und das in jeder Einzelheit: die Musik selbst ist komplex, die Texte und Bedeutungsebenen vielschichtig, Posen mehrdeutig oder auch all seine Talente und Interessen fernab der Musik oder einfach sein Leben ganz allgemein, öffentlich, global, multikulturell usw....) könnte ich Schlegels Vorstellung von einer neuen Mythologie verwirklicht sehen. Ebmeier hat es für mich mit den letzten Sätzen seines "Phänomens" auf den Punkt gebracht: "Er ist ein Romantiker. Ein Moderner. Er ist der erste Künstler einer neuen Zeit." (S. 258)


    Zitat von »maja5809faithkeeper«
    Bei Michaels Texten gibt es nie nur das offensichtliche, was auf den ersten "Blick" zu erkennen ist, es gibt immer verschiedene Ebenen und Interpretationsmöglichkeiten.


    Genau. Ich denke, der "erste Blick" ist dabei meist das, was man anhand des herrschenden Weltbildes, auf dessen Wahrnehmung man eben "konditioniert" ist, recht schnell und leicht erfassen kann, weil es einem sofort bekannt vorkommt und so ist es auch intendiert, denn hier ist der Startpunkt, d.h. der Stand der Dinge und die Sicht der Welt, mit denen alle sich irgendwie identifizieren können, der status quo sozusagen. Ab hier aber beginnt dann die Reise, auf die Michael dich mitnimmt (my friend you have seen nothing...), wenn und wann immer und so oft du möchtest, denn du sollst nicht stehen bleiben (da fällt mir immer ein, was er im Ebony-Interview von 1987 sagt: "I think that's life, to wanna grow and become more and ... like you plant a seed and it grows into something beautiful and it never dies really... I think people should be that way"), die Welt, wie sie ist, soll nicht befestigt/bestätigt werden (weil sie nicht gut genug ist und man sich damit nicht zufrieden geben darf oder gar lernen soll, dass es unabänderlich nunmal so sei).
    Das ganze ist ein andauernder Prozess, der Weg ist das Ziel und er ändert alles, zuallererst dich und letztlich die Wirklichkeit, die wir uns ja immer selbst erschaffen. Wenn ich nur daran denke, was vielleicht in 100 Jahren ist....

    Ja, das ganze Leben ist ein andauernder Prozess. Ich weiß noch wie ich mit Mitte zwanzig dachte ich hätte nun mein Weltbild für mich abgesteckt, indem ich mein Leben verbringen würde. Ich brauchte Erklärungen und feststehende Grenzen, die mir das Leben erfassbar machten und mir 'Sicherheit' gaben.
    Das war natürlich total naiv und ich weiß noch welchen Aha-Effekt ich hatte, als ich merkte dass alles im Wandel bleibt und was es heißt bis ans Ende des Lebens nicht ausgelernt zu haben.
    Heute setze ich lernen mit er-innern gleich. Es ist alles schon gewusst, mein Leben bietet nur die Bühne es erneut zu erfahren und vielfältig zu erfahren.

    Was ich auch so phänomenal finde, ist, dass er gerade durch seine Vielschichtigkeit alle Schichten von Menschen erreicht. Auch wenn man nur die oberflächliche Ebene seiner Kunst wahrnimmt, haut es einen trotzdem vom Hocker und dann noch viel mehr und immer weiter, wenn man tiefer geht.
    Und man kann es durch den Tanz auf noch einer weiteren Ebene wahrnehmen, das ist wirklich unglaublich

    Ich liebe den Facettenreichtum und ich liebe Vielschichtigkeit. :jubel:


    Nichts ist wie es scheint und alles ist dadurch möglich.
    Das ist die Magie hinter der Magie. Die Magie hinter den Zaubertricks, die einzig erfreuen sollen.
    Michael :herz: wollte immer erfreuen, aber er hat sich der ganzen Magie bedient, weil er gar nicht anders konnte.


    In den Tapes gibt es die Stelle wo er sagt, warum er Filme mit Kindern drehen will und keine drehen kann, von Verbrechen (Ich denke Krimis/Thriller und so), es habe nichts mit ihm zutun. Er könnte Verbrechen nur im Kontext mir einem Kinderschicksal sehen und die Geschichte zeigen wie das das Herz des Kindes verletzt hat. Genauso ist ja seine Aussage zur Rache: Das Konzept der Rache faszinierte ihn, weil es so gar nicht in seinem Denken/Herzen verankert war.
    Solch wenige Sätze sagen alles über ihn aus und sein Kunst spricht davon in vielen Facetten.
    Er war sich sehr bewusst, wie er seine Gabe einsetzen muss(te), um Herzen zu erreichen und die Welt tatsächlich verändern zu können- zu heilen.
    Ich denke diese Verantwortung war der Grund warum er sich alles abverlangte, warum es perfekt sein musste. Es ging nicht um Treppchen und Awards- es ging darum welche Türen diese Auszeichnungen öffneten.
    Ich habe ja über Mainstream die Nase gerümpft und mich damit um das Erlebnis, Michael eher wahrzunehmen, gebracht.
    Das war Verblendung, Naivität und Hochmut meinerseits. Ich war für Individualität, ein Denken und Handeln fernab der Norm. Ein Mainstream in der Musik, als etwas Vereinendes und nicht platt Gleichmachendes zu sehen, als einen Dienst an dem Menschen- da wäre ich im Traum nicht drauf gekommen :nenene: . Nie hätte ich einen derart individuellen, freidenkenden Künstler hinter Michael Jackson vermutet und seine Musik konnte ich damals nur auf der Ebene des Status Quo (den ich ablehnte) sehen- auch kitschig oder klischeehaft, fand ich manches was ich davon mitbekam-nicht ernst zunnehmen.
    Heute hat Mainstram wieder mehr die Position eingenommen die ich damals dachte. Musik wird produziert um an das Geld vieler Käufer zu gelangen- selten bis nie teilt sie etwas mit um zu vereinen, oder zu heilen.
    DAS ist ein immenser Verlust! Ich hoffe sehr dass sich viele junge Künstler nicht nur von dem Erfolg anspornen lassen, den Michael :herz: hatte, sondern auch von den tieferen Ebenen, inspiriert werden.

    Ist schon bemerkenswert, dass überall auf der Erde die Menschen ihn als Anhänger ihrer jeweiligen Religionen sehen und versuchen, es durch sein Verhalten etc. zu beweisen. Jeder möchte ihn gern auf seiner Seite wissen. Er könnte wirklich leisten, was den einzelnen gerade auch durch ihre blutige Geschichte nicht möglich zu sein scheint. So Why you wanna trip on me?

    Da hast Du absolut Recht. Und es geht über religiöse Gruppierungen hinaus! Er hatte sich lange nicht öffentlich dagegen aussprechen wollen 'gay' zu sein, um diese Gruppe nicht zu verletzen. Oberflächliche Geister dachten vllt er wollte das zahlende Klientel nicht vergraulen. In Wirklichkeit respektierte er sie und wollte sie nicht verletzen.

    Ein Werk, das nicht das Gemüt des Betrachters - oder Hörers - mächtig bewegt, ein Werk, an dem es nur etwas zu begreifen gibt, ist gewiß kein Kunstwerk; sondern allenfalls Illustration zu einer theoretischen Abhandlung.

    Wahr gesprochen. Ich musste erst ein paar Jahrzehnte auf den Buckel bekommen, bis ich diese Verletzlichkeit zulassen konnte. Ich denke ich trug eine Menge anderer Gefühle in den jungen Jahren in mir, die einfach durch andere Musik ausgedrückt wurden.
    Sicher ist es auch keine Überraschung, dass viele Menschen sich (erst) im Alter der Klassik öffnen können.
    Eigentlich sah ich mich immer vielen Stilen sehr offen gegenüber, aber erst jetzt wo ich wirklich ohne vorgefertigte Meinung (weniger vorgefertigt :bohr: ) zuhöre, erschließen sich Welten. In den körperlichen Aspekten möchte ich gerne nochmal 20 sein, ansonsten aber gar nicht!
    Ich liebe es sogar das 'Kitsch' salonfähig geworden ist. Nicht, das aus giftigen Stoffen in Billiglohnländern Wegwerfprodukte hergestellt werden- das ist die Kehrseite der Medaille. Ich liebe es, wie barocke Engel die Regale bevölkern, daneben Buddahstatuen und Tinkabells.
    Für mich steckt da eine positive Botschaft hinter :-D

    Dazu braucht es Mut und Michael Jackson hatte Mut, so viel, dass er eigentlich für die ganze Menschheit reichen könnte.

    Das ist wohl wahr. Michael :herz: war mutig und sehr stark. Er blieb bei all dem Wahnsinn und dunklen Gestalten um sich, immer er selbst.
    Michael trug soviel Überirdisches in sich und er besaß die Fähigkeit es zu transformieren und erlebar zu machen- für den Mainstream.
    So muss auch der Titel Künstler, auf viel mehr Ebenen gesehen werden.


    (Ich muss hier nicht betonen, dass ich mir seiner Menschlichkeit bewusst bin :zwinker: )
    Vielen vielen Dank Euch :flowers: , Sky*

  • Ich möchte meiner Lust am Schlichten und Einfachen auch weiter frönen können . Warum geht nicht beides? Gleichzeitg, nebeneinander, nacheinander, jedes zu seiner Zeit.


    Ohja, klar, so hatte ich das nicht gemeint - natürlich Schlichtheit ist auch ganz wichtig für mich . Nein, ich meinte damit die Haltung ausschließlich die Schlichtheit als akzeptabel zuzulassen.
    Das erlebe ich immer wieder, also Leute, die richtig einen Ekel bekommen, wenn sie ne bunte Lichterkette sehen oder so und deren Wohnungen so steril wie ein Operationssaal anmuten.

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  • Ich denke diese Verantwortung war der Grund warum er sich alles abverlangte, warum es perfekt sein musste. Es ging nicht um Treppchen und Awards- es ging darum welche Türen diese Auszeichnungen öffneten.


    Ja, das denke ich auch. Natürlich... Man kann es nachvollziehen und zugleich ist dieser Mut, diese Entschlossenheit und diese Tatkraft so außergewöhnlich und unglaublich... In diesem Satz steckt auch alles, was Ebmeier damit meint, wenn er schreibt, dass Michael unser Wertesystem zu Fall bringt, ja umkehrt. Weg mit diesem "ICH ICH ICH" und das vom erfolgreichsten und berühmtesten "Ego" der Welt. Aber nur bei dem funktioniert die Botschaft auch. :sonne:

    :herz: Michael Jackson - forever the King of Pop. A genre of music. Mainly, a beautiful human being. :herz:
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  • Macht Freude sie zu verfolgen.


    Macht es wirklich!
    Ich habe auch mehrfach gelesen, was Ebmeier über Kitsch schreibt, weil es geholfen hat, eine überkommene, enge Sicht (durchaus auch etwas gönnerhaft und überheblich) dieser Dinge loszuwerden. Und danach ging es so:

    Zitat


    Warum geht nicht beides? Gleichzeitg, nebeneinander, nacheinander, jedes zu seiner Zeit.

    Ein ganz wesentlicher Teil dieses neuen Wertesystems ist für für mich auch Toleranz - in einem absolut umfassenden Sinn.
    (@Sky::flowers: Das war jetzt das zweite MAl, dass ich mir ein Post von Dir komplett ausgedruckt und "unterschrieben" habe, war so viel Wahres für mich drin! :dafuer: )
    :herz:

  • Was macht einen Songschreiber aus?
    15/02/2012


    Joie: Vor einigen Wochen stellte unser Freund Joe Vogel Willa und mir und auch dem Journalisten Charles Thomson eine interessante Frage. Charles ist natürlich der Autor des wunderbaren Artikels Eine der beschämendsten Episoden in der Geschichte des Journalismus, neben vielen anderen. Also entzündete Joes Frage eine sehr lebhafte Diskussion zwischen uns Vieren, und diese Unterhaltung könnt ihr jetzt lesen.




    * * *


    Joe: Denkt ihr, die Tatsache, dass MJ kein technisch ausgebildeter Musiker war und keine Noten lesen und schreiben konnte, setzt ihn als Songschreiber herab? Und wie würdet ihr Kritikern antworten, die diese Behauptung aufstellen?


    Joie: Hmm. Joe, das ist eine wirklich gute Frage. Und es lässt mich an all die großen Talente denken, die wir normalerweise in unserer Gesellschaft als erfolgreiche Songschreiber bezeichnen. Also habe ich mit einer kleinen Untersuchung zu diesem Thema angefangen und war sehr überrascht, zu erfahren, dass viele von jenen, denen wir diese Rolle zugestehen, niemals gelernt haben, wie man Musik liest oder schreibt. Da tauchen Namen wie Bob Dylan und Paul McCartney auf. Tatsächlich konnte keiner der Beatles Noten lesen, nicht einmal der große John Lennon. Und Paul sagte einmal in einem Interview, dass so lange er und John wussten, welche Akkorde sie spielen würden und sie sich an die Melodie erinnerten, es gar nicht notwendig war, es aufzuschreiben oder zu lesen.


    Keiner der Brüder Gibb, von denen ich denke, dass sie einige der schönsten Musikstücke überhaupt geschrieben haben, konnte Noten weder lesen noch schreiben. Also nein, ich denke nicht, dass die Tatsache, dass Michael keine Noten lesen oder schreiben konnte, sein Talent als Songschreiber geschmälert hat, und wenn das das Argument ist, warum Kritiker ihm einen Platz auf dieser Liste mit den anderen „Großen“ verweigern, dann würde ich sagen, ihr Argument hat weder Hand noch Fuß.


    Willa: Und ich möchte hinzufügen, dass ich diese Kritik wirklich nicht verstehe, und es mag sein, dass es nur meine eigene Unwissenheit darüber ist, wie Musikkomposition wirklich funktioniert. Aber für mich scheint es so, dass der wichtige Teil des kreativen Prozesses der ist, die Idee zu haben und eine Vision, wie diese Ideen gegenüber den Zuhörern ausgedrückt werden sollen, so dass sie wirklich das fühlen können, was du versuchst zu sagen. Noten auf Papier festzuhalten, ist nur ein Weg, die musikalischen Gedanken festzuhalten, so dass du dich später daran erinnern oder sie mit anderen Musikern teilen kannst, und Michael Jackson war fähig, dies auf andere Arten zu tun. Er konnte seine Ideen mithilfe eines Kassettenrecorders aufnehmen, oder er konnte es live singen. Es gibt darüber ein wundervolles Zitat in deinem Buch, Joe, das mich einfach fasziniert:


    „Eines Morgens kam Michael herein mit einem neuen Song, den er über Nacht geschrieben hatte,“ erinnert sich der technische Assistent Rob Hoffman. „Wir holten einen Gitarrenspieler hinzu, und Michael sag ihm jede einzelne Note von jedem Akkord vor. ‚Dies ist der erste Akkord, erste Note, zweite Note, dritte Note. Dies ist der zweite Akkord, erste Note, zweite Note, dritte Note,’ etc. Dann wurden wir Zeuge davon, wie er die innigste und tiefempfundendste stimmliche Performance gab, live im Kontrollraum mit einem SM57 (Anm.: ein bestimmtes Mikrofon). Er sang uns das gesamte Streicherarrangement vor, jeden Teil. Steve Porcaro erzählte mir einmal, dass er beobachtet hätte, wie Jackson das mit den Streichern in dem Raum getan hat. Er hatte das alles in seinem Kopf, die Harmonien und alles. Nicht nur einfach Ideen von kleinen Achttaktern. Er sang tatsächlich das gesamte Arrangement in einen Mikrokassettenrecorder, komplett mit Pausen und Einfügungen.“


    Ich liebe das! Für mich ist die Vision in deinem Kopf zu haben die Essenz des Songschreibens. Zu sagen, Michael Jackson sei kein richtiger Songschreiber gewesen, weil er nicht wusste, wie man Noten auf Papier schreibt ist für mich das gleiche, als würde man sagen, Jane Austen wäre keine wirkliche Schriftstellerin gewesen, weil sie nicht wusste, wie man mit der Schreibmaschine schreibt. Das sind alles tüftelige Dinge für Buchhalter, wie es mir scheint. Die Ideen zu haben und diese Ideen gegenüber einem Publikum leidenschaftlich und aufrüttelnd ausdrücken zu können, das ist das, was entscheidend ist.


    Charles: Michaels Idol war James Brown, der bekanntermaßen ebenfalls Musik weder lesen noch schreiben konnte. Es ist vielleicht gar kein Zufall, dass Michael Browns Methode übernommen hat, deswegen umgab er sich mit talentierten Mitarbeitern, die seine Vision zum Leben erwecken konnten, basierend auf Beatboxing, Scatting, Summen, Singen und so weiter, die aber genauso auch ihre eigenen Beiträge auf den Tisch bringen konnten.


    Unzweifelhaft ist, dass es Michael dank seiner Unfähigkeit Musik zu lesen oder zu schreiben, an Autonomie als Künstler einbüßte. Das ist keine Kritik; das gilt für jeden in derselben Situation. Ich riskiere mal, gelyncht zu werden und ziehe Prince als Vergleich heran. Prince kann nicht nur eine Komposition vollständig nach allen Regeln der Musik niederschreiben, sondern er geht dann ins Studio und spielt jedes Instrument genau so, wie er es haben will und fügt dann alles zusammen. Es ist unzweifelhaft, dass Prince, zum Beispiel, deswegen mehr Autonomie und Unabhängigkeit als Künstler besitzt.


    Joie: Keine Angst, Charles, du bist hier sicher, denn ich betrachte mich selbst gelegentlich als Prince Fan. Er ist ein erstaunlicher Musiker und verdient die Anerkennung sehr. Und ich kann deiner Aussage nur zustimmen, dass er ganz sicher mehr Autonomie und Freiheit als Michael genoss.


    Willa: Aber war das jetzt so, weil Prince Noten lesen und schreiben konnte oder weil er Instrumente spielen konnte? Denn schlussendlich, wenn du ein Musikstück schreibst, lässt es immer noch eine Menge Raum für die Interpretation offen. Jemand, der Musik schreiben kann, aber kein Instrument spielt, wird immer noch ein ganzes Zimmer voller Mitarbeiter benötigen, aber das scheint für mich eine ganz andere Frage zu sein.


    Joie: Das ist ein wirklich guter Punkt, Willa. Prince‘ Autonomie hat wahrscheinlich eine Menge damit zu tun, dass er mehr als geübt mit vielen Musikinstrumenten ist und weniger mit der Tatsache, dass er Noten lesen und schreiben kann. Wenn er nicht die Fähigkeit gehabt hätte, all diese Instrumente spielen zu können, hätten die Dinge sicherlich anders gelegen.


    Charles: Aber, wenn du Michael allein in ein Zimmer gesetzt hättest, hätte er die meisten seiner Tracks nicht erschaffen und sie so klingen lassen können, wie sie auf dem fertigen Album waren. Nimm Billie Jean. All die Schlüsselelemente des Songs sind schon auf seinem Original Demoband, aber sein Team von Mitarbeitern half ihm, die Komposition auszufeilen und zu straffen. Bruce Swedien zum Beispiel kam auf die Idee, eine bestimmte Hülse zu benutzen, um diesen kultigen Sound der Drums zu erreichen.


    Nichts davon soll Michaels Fähigkeit als Songschreiber schmälern. Sieh dir einfach seinen Katalog an selbst verfassten Klassikern an. Die meisten Popkünstler können nicht mal ein Viertel der Hits verzeichnen, die Michael hatte, ganz zu schweigen von selbst verfassten Kompositionen.

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    Emily Dickinson

  • Joie: Das ist sehr wahr, Charles. Fakt ist, dass 17 seiner 28 Top Ten Singles als Solokünstler von ihm selbst geschrieben wurden. Und 9 seiner 13 Nummer Eins Hits als Solokünstler wurden von ihm selbst geschrieben. Das ist sehr beeindruckend und wie du sagst, es ist irgendwie einzigartig unter den Pop Acts.


    Aber ich möchte noch mal für eine Sekunde auf das zurückkommen, was du gerade gesagt hast, darüber, Michael allein in einen Raum zu setzen. Kürzlich hörte ich die Demoversion von Don’t Stop‚Til You Get Enough für einen anderen Post, an dem Willa und ich arbeiteten. Dieses Demo wurde von Michael und seinen Geschwistern Randy und Janet gemacht. Und ich war wirklich sprachlos darüber, wie nah dieses Demo an der fertigen Version, die auf das Album kam, war. Dieser Song war praktisch fertig, noch bevor er ihn Quincy Jones und seinen anderen Mitarbeitern zum „Polieren“ präsentierte. Also, auch wenn du vielleicht Recht hast, wenn du sagst, er könnte die meisten seiner Tracks nicht selbst erschaffen haben und sie zu dem Klang gebracht haben, den sie auf dem fertigen Album hatten, tendiere ich doch dazu, zu glauben, dass er sie alle verdammt nah dran hinbekommen hätte.


    Charles: Das Demo zu Don’t Stop Til You Get Enough ist sehr eindrucksvoll, aber wie du sagst, ist er nicht ganz allein im Studio. Er hat Instrumentalisten dort, die ihm helfen und obwohl die Schlüsselelemente der Komposition schon da sind, wären sie es nicht, wenn er nicht diese Instrumentalisten gehabt hätte, und die gesamte Komposition hätte nicht den Glanz und den Schliff gehabt, den er erreichte, wenn er mit seinen hochdekorierten Mitarbeitern zusammenarbeitete.


    Um auf Michaels Helden James Brown zurückzukommen: Eine Zeitlang wurde es modern, James Brown seine ganze Verantwortlichkeit für seine Kompositionen abzusprechen. Kritiker behaupteten, er hätte sich an die ‚Rockschöße seiner Mitarbeiter gehängt’, und dass er ohne ihre Fachkundigkeit niemals diese Musik in dem Maß, wie er es tat, hätte produzieren können. Aber ich habe über die Jahre eine Menge Zeit damit verbracht, Mr. Browns Mitarbeiter aus allen möglichen Phasen seiner Karriere zu interviewen. Ich habe niemals auch nur einen gefunden, der nicht glaubte, dass James Brown ein Genie war oder glaubte, dass irgendwelche seiner Musik ohne ihn existiert hätte.


    Als ich Pee Wee Ellis interviewte, erzählte er mir:


    „Er war definitiv ein Zusammenarbeiter, ein starker Einfluss, ein Anführer. Er hatte eine Vision, die wir in diesem Leben nicht noch einmal sehen werden. Er war der abgefahrenste Mann der Welt. Er hatte mehr Rhythmus in seinem kleinen Finger als die meisten von uns im ganzen Körper. Alles eine ganz natürliche Sache, verstehst du? Und die Art, wie er sich der Band gegenüberstellte. Wenn überhaupt, dann hängte sich die Band an seine Rockschöße. Aber die Band bot eine Plattform für ihn, damit er tun konnte, was er tat.“


    Ich sehe Michael ähnlich. Keiner dieser genre-definierenden Hits, die er geschrieben hat, hätte ohne seine Vision existiert, aber es hätte auch keiner von ihnen existiert, wenn er nicht das richtige Team von Leuten um sich gehabt hätte, die seine Vision Realität werden ließen. Dass er keine Noten lesen und schreiben konnte, behinderte ihn nicht, so lange er Leute um sich hatte, die diese Ideen interpretierten und sie zum Leben erweckten.


    Joe: Das ist ein sehr guter Punkt, Charles, und etwas, das ich versucht habe, in Man in the Music klar zu machen. Wir haben in unserer Kultur diese tief verwurzelte Vorstellung, dass etwas, was man isoliert erschafft mehr bewundert wird, als etwas in Zusammenarbeit zu erschaffen (der Mythos des ‚einzelgängerischen Genies’). Also bestaunen die Kritiker einen Künstler wie Prince, der grundsätzlich einen Track vom Entwurf bis zur Fertigstellung ohne Mitarbeiter erstellen kann. Nicht dass dies nicht beeindruckend wäre (denn das ist es), aber ich würde die Erstellung eines Albums damit vergleichen, Regie bei einem Film zu führen: Ist ein Regisseur besser, wenn er jede einzelne Rolle selbst einnimmt (Drehbuch, Kamera, Kostüme, Beleuchtung, Schauspiel, etc.)? Oder macht es einen guten Regisseur aus, wenn er die Fähigkeit hat, ein kreatives Team zusammenzubringen und ein Projekt mit seinen übergreifenden Visionen und Leidenschaften zu führen?


    Willa: Ich denke, das ist eine ausgezeichnete Analogie, Joe, und verschiebt die Definition des „Songschreibers“ zu etwas, das viel näher an Michael Jacksons Prozess ist. Er kommt nicht aus der Tin Pan Alley-Tradition (Anm.: Tin Pan Alley ist die die 28. Straße zwischen Fifth Avenue und Broadwayim New Yorker Stadtteil Manhattan bezeichnet. Hier waren zwischen 1900 und ca. 1930 die meisten US-amerikanischen Musikverlage ansässig.), in der Musik für Notenblätter erschaffen wurde, die dann an Sänger oder Musiker verkauft wurden. So hat zum Beispiel Neil Diamond angefangen – mit Songschreiben für einen Verlag – und historisch gesehen kommen eine Menge großer Sänger und Songschreiber aus dieser Tradition. Michael Jackson hatte einen ganz anderen Hintergrund, und seine Annäherung war sehr viel ganzheitlicher als das. Er schrieb nicht einfach nur Songs und händigte sie dann jemand anderem aus, um sie zu produzieren. Wenn er einen Song kreierte, hatte er eine genaue Vorstellung davon, wie das fertige Stück klingen sollte, und dann führte er die gesamte Produktion dahin, diese Vision zu erreichen, ziemlich ähnlich dem, wie ein Filmregisseur das tun würde. Also denke ich, dieser Vergleich funktioniert wirklich gut.


    Joe: Ich bin froh, Charles, dass du James Brown ins Spiel gebracht hast, denn ich weiß, dass du dich sehr mit ihm beschäftigt hast, und es gibt mit Sicherheit eine Menge Parallelen. Ich habe dieselben Empfindungen, die du bei Browns Mitarbeitern gefunden hast auch bei MJ’s Mitarbeitern, mit denen ich sprach, gefunden. Sie empfanden es nicht so, dass seine Abhängigkeit von Musikern, Produzenten und Technikern ihn als Künstler reduzierte. Jeder von ihnen sprach darüber, wie eingebunden er auf jeder Stufe des kreativen Prozesses war, aber genauso, wie er ihnen Raum und Freiheit gelassen hat; sie sprachen über kreative Chemie und wie oft Magie während der Zusammenarbeit auftauchte. Also hast du absolut Recht, dass er eventuell etwas an Autonomie verloren hat, aber er erlangte im Gegenzug dazu auch etwas an unerwarteter synergetischer Inspiration. Ich denke, Michael hat einiges auch von Quincy Jones übernommen, denn Jones (der aus dem Bereich des Jazz und der Filmmusik kommt) war brillant darin, dynamische Teams zusammenzustellen und sie dazu zu bringen, gut zusammenzuarbeiten.


    Nun möchte ich, um mit dem Lesen und Schreiben von Musik weiterzumachen, alle eure Gedanken zu etwas wissen. Was denkt ihr, warum Michael Leuten oft erzählt hat, dass, wenn er Musik lesen und schreiben lernen würde, dies seine Kreativität ruinieren könnte?


    Joie: Okay, ich weiß nicht viel über das Songschreiben, aber ich kann mir vorstellen, wenn du dir ständig Gedanken machst darüber, ob etwas „technisch“ funktioniert oder nicht, dass es sozusagen die Kreativität aussaugen würde. Und nicht nur das, sondern es würde vielleicht ebenso die Freude und das Herz aussaugen. Du wärst so besorgt darüber, es technisch richtig hinzubekommen, dass du in Gefahr wärst, den kreativen Flow, diese Magie, zu verlieren. Und wir wissen alle, dass es bei Michael immer um Magie ging. Also denke ich, seine Bemerkung darüber, er fürchte, es würde seine Kreativität ruinieren, war begründet. Und ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass Paul McCartney einmal eine ähnliche Befürchtung geäußert hat, also ist es sogar möglich, dass die beiden mal darüber gesprochen haben.

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  • Willa: Das ist eine wirklich interessante Frage, Joe. Ich würde behaupten, du bist ein guter Lehrer! Um ehrlich zu sein, die Befürchtung, dass das Lernen Musik zu schreiben deine Kreativität gefährden könnte, ergibt nicht wirklich Sinn für mich. Letzten Endes scheint es Mozart oder Beethoven oder Bach nicht allzu sehr behindert zu haben. Notenschrift ist nur einfach ein Weg für Musiker, miteinander zu kommunizieren, und ob du deine musikalischen Gedanken durch das Singen in einen Kassettenrecorder oder das Schreiben von Noten auf Papier ausdrückst, sollte keinen großen Unterschied machen.


    Aber ich stimme Joie zu. Wenn ich es raten müsste, könnte ich mir vorstellen, dass diese Angst etwas mit der Kalkulation der Taktmaße und mit dem richtigen Generalvorzeichen zu tun hat und damit, dass es „technisch funktioniert“, wie du gesagt hast, Joie. Ich weiß, dass wenn er über das Tanzen gesprochen hat, er manchmal sagte, er würde Tänzer bei ihrem Auftritt beobachten und er könne förmlich sehen, wie sie im Geist die Takte zählen. Und er sagte, das funktioniert einfach nicht. Du musst üben und üben und üben, bis die Schritte tief verwurzelt sind in dir, so dass du beim Auftritt deine ganze Aufmerksamkeit darauf lenken kannst, die Musik zu spüren und die Gedanken und Emotionen der Musik durch deinen Körper auszudrücken, und nicht die technischen Details von „Eins, Zwei, Drei, und Gleiten.“


    Und ich stelle mir vor, dass er auf dieselbe Art über das Lernen von Musikschreiben auf Notenblättern dachte. Es braucht Jahre, um erfahren genug zu sein, dass es zur zweiten Natur wird und du es kannst, ohne die Takte im Kopf zu zählen, um es mal so auszudrücken. In der Zwischenzeit würde es dem Fühlen von Musik immer in die Quere kommen, und warum sollte er sich darum sorgen, wenn er schon eine sehr effektive Methode für die Kommunikation mit anderen Musikern gefunden hat?


    Charles: Es ist ein interessanter Punkt, ob technisches Wissen die Kreativität behindert und die Person, die mir sofort dazu einfällt, ist wieder einmal James Brown. Das Fehlen von technischem Fachwissen half meiner Meinung nach Mr. Brown. Er sprach immer wieder davon, dass seine Musik nur mit reinem Gefühl zu tun hatte.


    Einige von James Browns größten Aufnahmen enthalten Fehler, aber er kümmerte sich nicht darum, denn für ihn zählte nur die Energie. In der Mehrzahl der Fälle veröffentlichte er die erste Aufnahme, sogar wenn sie Fehler enthielt. „Die erste Aufnahme ist Gott,“ sagte er. „Die zweite Aufnahme ist der Mensch.“


    Willa: Was für ein großartiges Zitat! Obwohl es auch einen Unterschied zwischen Michael Jackson und James Brown hervorhebt. Michael Jackson zögerte nicht, 50 Takes aufzunehmen, wenn es zu dem Klang führte, den er sich vorstellte.


    Charles: In der Dokumentation Soul Survivor sagten mehrere von Mr. Browns Mitarbeitern, dass eine Menge seiner Musik auf der technischen Ebene ‚fehlerhaft’ war:


    „Du kannst sie nicht zählen, du kannst sie nicht schreiben, denn sie missachtet alle musikalischen Regeln … Dinge so simpel wie 1,2,3,4 – wenn das nicht bei dem funktioniert, was er macht, dann macht er es wahrscheinlich mit 1,2,3, und-ein-halb.“


    Wenn Mr. Brown gesagt würde, seine Musik wäre ‚falsch’, würde er antworten „Aber sie klingt gut. Gott gab dir diese Ohren. Willst du dich mit Gottes Ohren streiten?“


    Fred Wesley, einer von Browns Arrangeuren sprach in der Vergangenheit darüber, wie peinlich berührt er sich fühlte, wenn Fans zu ihm kamen und ihm erzählten, wie sehr sie den Track Pass The Peas liebten. Wesley hatte das Gefühl, dass der Track auf einem technischen Level Müll sei. Aber dieser Song wird heute immer noch rund um die Welt geliebt. Prince spielt es regelmäßig auf seinen Konzerten. Es ist oft der größte Publikumserfolg bei jedem Maceo Parker, Fred Wesley oder Pee Wee Ellis Gig. Wesley mag es technisch unspektakulär gefunden haben, aber es berührte die Leute. Es ging in sie hinein, ließ sie lächeln, ließ sie sich bewegen.


    Wenn James Brown nach den technischen Regeln gespielt hätte, wären wir wahrscheinlich niemals auf Funk Music gestoßen. Ohne Funk hätten wir wohl niemals Disco oder Hip Hop gehört. James Brown brach die Regeln und änderte die Welt. Zwanzig Jahre später, als Michael Jackson all das viele Geld für das Thriller Video ausgab, dachte jeder, sein Gehirn wäre weich geworden. Er brach ebenfalls die Regeln und änderte die Welt.


    Vielleicht sah Michael die Regeln des Musikschreibens als erdrückend an. Wenn er nicht wusste, was die Grenzen waren, konnte er durch sie auch nicht eingeengt werden.


    Joie: Ich liebe es, wie du das sagst, Charles! „Wenn er nicht wusste, was die Grenzen waren, konnte er durch sie auch nicht eingeengt werden.“ Das ist eine sehr tiefgründige Art, das zu sehen.


    Willa: Ganz meine Meinung.


    Joie: Du hast so Recht mit James Brown. Ohne ihn hätte Funk Music niemals existiert, und dann würde die gesamte Landschaft der Musikszene heute sehr viel anders aussehen.


    Willa: Jungs, ich habe gerade das Gefühl, als wenn ich ein riesengroßes Aha-Erlebnis habe. Dies ist alles so faszinierend für mich. Und Charles, ich denke, ich fange gerade an zu verstehen, was du sagen willst. Du sprichst nicht einfach nur darüber, Noten auf eine Seite zu werfen. Du sprichst darüber, ausgebildet zu sein in den „Regeln“ der westlichen Songschreibertradition und diese Regeln verinnerlicht zu haben – und James Brown hat diesen Takt gebrochen, und er brach die Regeln dieser Tradition.


    Vor langer Zeit habe ich mal mit einer Musikprofessorin gesprochen – vor etwa 15 Jahren – die gerne Songs auf ihrem Keyboard, der an ihren Computer angeschlossen war, komponiert hat. Sie zeigte mir diese Software, die sie hatte, um einen Song spielen zu können, und die Software nahm das, was sie spielte und wandelte es automatisch um, um ein Notenblatt daraus zu generieren. Das war ziemlich cool. Du denkst, es wäre verzwickt und eine Menge Aufräumen nötig, um es richtig hinzubekommen, aber das war es nicht. Es war ziemlich sauber. Sie sagte, es gäbe etwas Befriedigendes am handschriftlichen Notenschreiben, aber es kann nach einer Weile ziemlich lästig sein und diese Software lässt sie ihr Notenblatt genauso leicht herstellen wie das Spielen. Sie kann sich ganz auf die Musik konzentrieren, und dann würde das Notenblatt magischerweise da sein, wenn sie fertig ist.


    Ich musste gerade während dieser ganzen Unterhaltung an sie denken und daran, dass es keine große Sache ist. Wenn du mit Musikern zusammen arbeitest, die nach Gehör spielen, dann brauchst du kein Notenblatt. Wenn du zum Beispiel mit einem klassisch ausgebildeten Cellisten arbeitest oder mit jemandem, der wirklich ein Notenblatt möchte, dann kaufst du einfach eine Software oder mietest dir einen Studenten, der die Noten niederschreibt. Egal wie, es ist nichts Besonderes.


    Aber natürlich war diese Musikprofessorin tief in der westlichen Songschreiber Tradition verwurzelt, so dass alles, was sie komponierte einfach bewusst oder unbewusst in die Konventionen dieser Traditionen fiel. Der Computer hatte kein Problem damit, die Struktur ihrer Musik zu erkennen, die Noten und alles andere genau da zu platzieren, wo sie hin sollen, denn alles, was sie spielte, passte in die Regeln oder was es von ihr zu spielen erwartete.


    Aber was würde der Computer machen, wenn James Brown daher käme und eine Zeitschleife einwirft in der Mitte eines Taktmaßes? Ich habe gerade ein ziemlich lustiges Bild im Kopf von einem Computer, der rauscht und piept, während er versucht, einen Song von James Brown zu produzieren.

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  • Joie: Willa, du bist köstlich. Ich schwöre, manchmal bist du echt zum Schießen! Aber du hast Recht; es ergibt ein amüsantes mentales Bild – dieser Computer, der einen Nervenzusammenbruch dabei bekommt, es mit James Browns Grunzern und non-verbalen Stimmlauten aufzunehmen. Das ist saukomisch!


    Willa: Echt lustig, Joie! Es ist wie "James Browns Computer imitiert James Brown" – der am schwersten arbeitende Computer im Musiklabor. All die anderen Computer arbeiten sich ganz gesetzt durch Mendelssohn und Brahms, und der James Brown Computer rockt und knackt. Und kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn er einen Song im 4/4 Takt darstellt und plötzlich kommt ein Taktmaß mit 3 ½ Beats? Es würden kleine Rauchschwaden aufsteigen.


    Joe: Ich möchte noch hinzufügen, dass meiner Meinung nach ein Teil der Herabsetzung Michaels als Künstler zusammenhängt mit diesem Weißen, eurozentrischen Verständnis von Musik und einer Ignoranz (oder Minderung) der afroamerikanischen Ästhetik. Einiges davon hat mit dem zu tun, über das wir gesprochen haben: dem Abweichen von etablierten Formen und Techniken. Was James Brown tat, ist dem „Swing“ und der Improvisation der Jazzmusiker, die sie in die traditionellen Melodien einbrachten, nicht unähnlich. Dies waren Abweichungen von lange etablierten Traditionen, die ihre Zeit brauchten, damit die Leute sie als legitim anerkannten. Über sehr lange Zeit wurde dies als eine sehr niveaulose Form der Unterhaltung angesehen. Was oft die Reaktion gegenüber künstlerischen Neuerungen ist.


    Willa: Absolut. Wir sehen dies immer wieder und überall. Als der Roman sich anfänglich entwickelte, wurde er als „niedere Kunst“ betrachtet und das ernste Drama, Gedichte und Essays waren „hohe Kunst“. Dann als Filme eingeführt wurden, wurden sie als „niedere Kunst“ betrachtet und ernste Romane als „hohe Kunst“. Heute werden Musikvideos als „niedere Kunst“ und ernsthafte Filme in Spielfilmlänge als „hohe Kunst“ angesehen, obwohl Michael Jacksons Videos dies ganz klar herausgefordert hat.


    Du sprichst in deinem Atlantic Artikel über dieses Vorurteil gegenüber neuen Kunstformen, Joe – speziell gegenüber neuen Musikgenres in den USA – und du zeigst, dass es nicht nur Voreingenommenheit gegenüber neuen Formen, sondern ebenso auch einige tief sitzende Rassenvorurteile gibt:


    Historisch gesehen ist diese Zurückweisung Schwarzer Künstler (und Schwarzer Stilrichtungen) mit seinem Mangel an Substanz, Tiefe und Sinn so alt wie Amerika selbst. Es war die Lüge, die die Minstrel-Shows möglich machte. Es war eine allgemeine Kritik an Spirituals (in Relation zu traditionellen Hymnen), an dem Jazz der 20er und 30er Jahre, an R&B der 50er und 60er, an Funk und Disco der 70er und an Hip Hop in den 80ern und 90ern (und das bis heute). Die kulturellen Gatekeeper verfehlten nicht nur, die ursprüngliche Gesetzmäßigkeit dieser neuen musikalischen Stile und Formen zu erkennen, sie tendierten auch dazu, die Verdienste der afroamerikanischen Männer und Frauen als Wegbereiter entweder zu übersehen oder herabzusetzen. Für Weiße Kritiker war der King of Jazz nicht Louis Armstrong, nein es war Paul Whiteman; der King of Swing war nicht Duke Ellington, es war Benny Goodman; der King of Rock war nicht Chuck Berry oder Little Richard, es war Elvis Presley.


    Und wie du so deutlich in deinem Artikel darlegst weitet sich dieses Muster auch ganz klar bis zu Michael Jackson aus. Er war so innovativ an so vielen Fronten, und er musste gegen diese zweigleisigen Vorurteile gegen Schwarze Innovatoren während seiner ganzen Erwachsenenkarriere kämpfen.


    Joe: Also ich denke, dies zeigt einem, auf welche Weise Jackson wahrgenommen und missverstanden wurde. Oft vereinte er Schwarze und Weiße Stile auf faszinierende Weise miteinander (History und Will You Be There, zum Beispiel). Aber er ist verwurzelt in der afrikanisch-amerikanischen Tradition. Genau deshalb ist es ein Fehler der Kritiker, seine Musik im Vergleich zu Künstlern wie Dylan oder Springsteen oder Bono oder Costello (alles Lieblinge der Kritiker) zu beurteilen, denn Jackson ist nicht diese Art von Künstler. Es wäre, als würde man erwarten, dass Langston Hughes Gedichte wie Robert Frost schreibt. Es ist nicht so, dass Jacksons Lyrics nicht poetisch wären; es ist so, dass er auf eine ganz andere Art kommuniziert.


    Ein Teil seiner Größe besteht darin, dass er sich jenseits aller Worte bewegt (wie es die Spirituals und der Blues und der Jazz tun); es sind seine non-verbalen Stimmlaute – seine Schreie, seine Ausrufe der Freude, sein schweres Atmen, sein Scatting, sein Beatboxing, seine Fähigkeit des Einswerden mit der Musik. In der Tat ist es so, dass sogar, wenn er die Sprache benutzt, er oft Wörter verdreht und verzerrt oder sie mit einer solchen Frische, Nuancierung und Intensität übermittelt, dass Zeilen mehr werden als die Summe ihrer Einzelteile. Stevie Wonder hat einmal gesagt, Jackson habe eine erstaunliche Begabung, einen Text zu „lesen“. Mit anderen Worten, er besaß die Fähigkeit, ganz gewöhnliche Worte mit etwas weitaus Tieferem zu versehen. Bei Musik geht es letztendlich um Ausdruck und Verständigung, und für mich enthüllen seine Songs eine bei Weitem größere emotionale Bandbreite als bei den meisten anderen Künstlern.


    Joie: Ich bin ganz deiner Meinung, Joe. Bei Michael geht es immer um Emotion und Intensität. Es ist immer da, direkt unter der Oberfläche, in jedem Video und in jeder Live Performance, auf jedem Track eines jeden Albums. Wie es aussieht, bekommt man diese Art von unbearbeiteten Emotionen nicht bei den meisten anderen Künstlern.


    Joe: Eine andere Sache, die Jackson als Songschreiber so großartig macht, ist, dass er diese unglaubliche Fähigkeit besitzt, über alle Grenzen hinaus, die die Menschen typischerweise trennen (wie Rasse, Geschlecht, Sexualität, Sprache, Kultur, soziale Klassen) zu kommunizieren. Er hat ständig alles miteinander verbunden. Rock und R&B, Hip Hop und Pop, Gospel und Klassik. Er war gleichzeitig zugänglich und fordernd, einfach, aber vielschichtig. Er brachte den Massen Beethoven näher und die Musik der Straße in die Vorstädte.


    Joie: Ich denke, das ist ein wundervoller Gedanke, um hier aufzuhören, Joe. Und Willa und ich danken euch beiden, dass ihr euch dieser Unterhaltung angeschlossen habt!


    Nächste Woche werden Willa und ich Dancing the Dream erforschen, Michaels Buch der Gedichte und Essays, also stellt sicher, für diese Diskussion wieder hier zu sein.




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  • Zitat

    Aber für mich scheint es so, dass der wichtige Teil des kreativen Prozesses der ist, die Idee zu haben und eine Vision, wie diese Ideen gegenüber den Zuhörern ausgedrückt werden sollen, so dass sie wirklich das fühlen können, was du versuchst zu sagen. Noten auf Papier festzuhalten, ist nur ein Weg, die musikalischen Gedanken festzuhalten, so dass du dich später daran erinnern oder sie mit anderen Musikern teilen kannst, und Michael Jackson war fähig, dies auf andere Arten zu tun.

    ..ja..die Idee..die genaue Vorstellung davon, wie es sich anhören soll..die hatte Michael immer in seinem Kopf..und er konnte es wohl sehr genau - jedes Instrument - weitergeben..bis es sich auch genauso anhörte, wie das, was er von Anfang an in seinem Kopf hörte...das vorsingen der Instrumente ist doch nur eine andere Art, es zu vermitteln, wie das aufschreiben...und ich glaube sogar, dass es kraftvoller ist, als das, was man mit notenschreiben vermitteln kann...


    Zitat

    Keiner dieser genre-definierenden Hits, die er geschrieben hat, hätte ohne seine Vision existiert, aber es hätte auch keiner von ihnen existiert, wenn er nicht das richtige Team von Leuten um sich gehabt hätte, die seine Vision Realität werden ließen. Dass er keine Noten lesen und schreiben konnte, behinderte ihn nicht, so lange er Leute um sich hatte, die diese Ideen interpretierten und sie zum Leben erweckten.


    Zitat

    Wir haben in unserer Kultur diese tief verwurzelte Vorstellung, dass etwas, was man isoliert erschafft mehr bewundert wird, als etwas in Zusammenarbeit zu erschaffen (der Mythos des ‚einzelgängerischen Genies’). Also bestaunen die Kritiker einen Künstler wie Prince, der grundsätzlich einen Track vom Entwurf bis zur Fertigstellung ohne Mitarbeiter erstellen kann. Nicht dass dies nicht beeindruckend wäre (denn das ist es), aber ich würde die Erstellung eines Albums damit vergleichen, Regie bei einem Film zu führen: Ist ein Regisseur besser, wenn er jede einzelne Rolle selbst einnimmt (Drehbuch, Kamera, Kostüme, Beleuchtung, Schauspiel, etc.)? Oder macht es einen guten Regisseur aus, wenn er die Fähigkeit hat, ein kreatives Team zusammenzubringen und ein Projekt mit seinen übergreifenden Visionen und Leidenschaften zu führen?


    ..dazu steht doch was im American Master.. dass es einen Meister eben auch ausmacht, die RICHTIGEN Leute um sich zu versammeln um GEMEINSAM etwas großes zu erschaffen..es ist doch nur von Vorteil, sich auf die jeweils Besten ihres Fachs zu verlassen...so wird das Ergebnis eben perfekt und einzigartig..und es wird (trotzdem) genauso, wie Michael es von Anfang an im Kopf hatte..


    Zitat

    Es braucht Jahre, um erfahren genug zu sein, dass es zur zweiten Natur wird und du es kannst, ohne die Takte im Kopf zu zählen, um es mal so auszudrücken. In der Zwischenzeit würde es dem Fühlen von Musik immer in die Quere kommen, und warum sollte er sich darum sorgen, wenn er schon eine sehr effektive Methode für die Kommunikation mit anderen Musikern gefunden hat?

    ..und ich kann mir das gut vorstellen, dass er diese Magie, dieses Spirituelle und das Fühlen nicht verlieren wollte, was er empfand, wenn die Lieder in seinem Kopf Gestalt annahmen..Notenschreiben ist da viel zu technisch und emotionslos...(ich denke durchaus, das Michael es gekonnt hätte - wenn er es gewollt hätte..)


    nur eine Aussage (von vielen ähnlichen..) von Michael..weil das gerade erst im Erinnerungen Thread stand, aus einem Interview ca. 1980..:


    Michael: I think I have the um, I think the mind is enough alone because I can hear what I want. I have a whole orchestra up here; a whole orchestra. And I hear it and I interpret it to musicians and they put it down. It’s like Stevie [Wonder], he doesn’t write music or read music nor does Paul McCartney and he still can’t today. You just feel it really.

    Einmal editiert, zuletzt von maja5809faithkeeper ()

  • Oh das war eine schöne, interessante, fundierte und lustige Runde :isis:

    Zitat

    Charles: „Wenn er nicht wusste, was die Grenzen waren, konnte er durch sie auch nicht eingeengt werden.“ Das ist eine sehr tiefgründige Art, das zu sehen.

    Das ist der Satz dieser Runde! Es ist der Satz der Michael erfasst.Und zwar ganz und gar!
    Von daher ist es für mich keine tiefgründige Art das/ihn zu sehen, sondern DIE EINZIG MÖGLICHE!

    Zitat

    Aber was würde der Computer machen, wenn James Brown daher käme und eine Zeitschleife einwirft in der Mitte eines Taktmaßes? Ich habe gerade ein ziemlich lustiges Bild im Kopf von einem Computer, der rauscht und piept, während er versucht, einen Song von James Brown zu produzieren.

    Ach das ist so lustig und so wahr, was sie zu diesem Computer schreibt und in dem Fall zu James Brown. Ich weiß zwar über Brown echt wenig, aber seine Einzigartigkeit und wie er die Massen erreichte, sprechen eine klare Sprache.
    Ich persönlich finde etwas auch eher perfekt, wenn es einen Haken hat. Irgendwie so, als verleihe erst das die Seele/ oder bringt sie zu Ausdruck. Vllt ist es auch anders, da die Seele ja makellos ist... Vllt ist der Haken den ich an einer Sache liebe, das was das Menschliche mit der Seele verbindet. Aber ich philosophiere.. und es ist unausgegoren..

    Zitat

    Ein Teil seiner Größe besteht darin, dass er sich jenseits aller Worte bewegt (wie es die Spirituals und der Blues und der Jazz tun); es sind seine non-verbalen Stimmlaute – seine Schreie, seine Ausrufe der Freude, sein schweres Atmen, sein Scatting, sein Beatboxing, seine Fähigkeit des Einswerden mit der Musik. In der Tat ist es so, dass sogar, wenn er die Sprache benutzt, er oft Wörter verdreht und verzerrt oder sie mit einer solchen Frische, Nuancierung und Intensität übermittelt, dass Zeilen mehr werden als die Summe ihrer Einzelteile.

    Auch dies sehe ich im übertragenen Sinn, als eine tiefe Wahrheit die Michael lebte, oder die durch ihn lebte. Ich kann es auch nicht anders ausdrücken, als dass er den Dingen Seele einhauchte.
    Für mich scheint diese Wahrheit so klar und einfach und universell, bei allem was er tat.

    Zitat

    Joe: Eine andere Sache, die Jackson als Songschreiber so großartig macht, ist, dass er diese unglaubliche Fähigkeit besitzt, über alle Grenzen hinaus, die die Menschen typischerweise trennen (wie Rasse, Geschlecht, Sexualität, Sprache, Kultur, soziale Klassen) zu kommunizieren. Er hat ständig alles miteinander verbunden. Rock und R&B, Hip Hop und Pop, Gospel und Klassik. Er war gleichzeitig zugänglich und fordernd, einfach, aber vielschichtig. Er brachte den Massen Beethoven näher und die Musik der Straße in die Vorstädte.

    Und da kommt wieder die erste Aussage zum tragen. Dadurch das Michael Grenzen nicht kannte/an-erkannte, gar nicht von ihnen wissen wollte/ sie nicht in sein Denken ließ, gelang ihm diese Verbindung. Eine tänzerisch leichte und anmutige Verbindung von Genres und eben auch Rasse, Geschlecht, Sexualität, Sprache, Kultur, soziale Klassen- vom Irdischen und dem Himmlischen.

    Zitat

    Du musst üben und üben und üben, bis die Schritte tief verwurzelt sind in dir, so dass du beim Auftritt deine ganze Aufmerksamkeit darauf lenken kannst, die Musik zu spüren und die Gedanken und Emotionen der Musik durch deinen Körper auszudrücken, und nicht die technischen Details von „Eins, Zwei, Drei, und Gleiten.“

    Michael hat seine Schritte in jungen Jahren abgeschaut/aufgenommen und durch unermüdliches Üben zu ganz natürlich abrufbaren Bewegungen werden lassen.
    Er hat, ausgestattet mit diesem immensen Talent, seine 'Hausaufgaben' sehr früh gemacht- die Technik verinnerlicht und dadurch sehr früh mit seinem eigenen Ausdruck beseelen können.


    Hätte er genauso jung Notenschreiben gelernt, wäre auch das sicher eine Möglichkeit geworden, spielerisch seine Melodien auf Papier auszudrücken.


    Später dann, war der Zug abgefahren und er hätte wirklich einen immensen zeitlichen Aufwand betreiben müssen, um es zu etwas Natürlichem werden zu lassen. So stelle ich mir das vor..
    Davon ab, gehört es einfach zu Michael dazu, dass er das Gehörte sofort mit Hilfe seiner Stimme- dem Instrument das er perfekt beherrschte- in die Welt holte.
    Es passt so sehr zu ihm. Einfach ein Medium, das ihm viel mehr entsprach, als ein Stift auf Papier. (Sein Geschriebenes sieht auch einfach nie so aus, als wäre es das Medium seiner Wahl.)


    Das war wirklich eine sehr inspirierende Runde. 1000 Dank liebe Lilly, dass DU es uns zugämglich machst!!


    Und Maja, ich sehe es auch als eine meisterhafte Stärke, wenn man bei anderen ihre Talente anerkennen, bestärken und nutzen kann. Das ist eine sehr smarte Vorgehensweise und ermöglicht eine 'Bestäubung'. Man bereichert sich und am Ende kommt unweigerlich mehr als die Summe der Einzelteile heraus.


    Ich bewundere auch was Prince kann, oder auch Lenny Kravitz.. aber ich finde es sagt auch soviel mehr aus, wenn man sich nur als Einzelgänger bewegt, ausdrückt und verwirklicht. Das hätte doch gar nicht zun Michael gepasst.
    Ich würde behaupten, dass ihm auch da ganz selbstverständlich das Wissen um All One geleitet hat. Er hatte Vertrauen in die Gaben anderer und umgab sich gerne mit anderen kreativen Menschen.
    Dieses Annehmen können, ohne sich selbst kleiner zu fühlen, spricht von einer großen sozialen Kompetenz, die ihm ja von machen Seiten abgesprochen wurde.
    Michael war kein merkwürdiger Einzelgänger. Ihm ging es immer darum andere miteinzubeziehen (und in anderen Bereichen für sie da zu sein, zu helfen)-auch sie zu erheben.
    Eigentlich stieß er nur da an seine sozialen Kompetenzen, wo er mit Berechenbarkeit, Intrigen und schwer einschätzbaren Menschen (oder waren es leicht durchschaubare Menschen?) zusammen traf. Berechenbarkeit und Arglist, Menschen die etwas im Schilde führten, ich denke die haben ihn schüchtern sein lassen. Wenn Vertrauen da war, oder die Unbefangenheit von Kindern, war er das sozialste Wesen überhaupt.
    Ich bin etwas abgeschweift, aber daszu wurde ich von dem schönen wahren Satz von Charles T. inspiriert.


    Man, ich muss unbedingt mal alle Kapitel aus diesem Thread 'abarbeiten'. Das macht ja so ein Spaß. :doppelv:
    Sky* :pp: